Als Kind wurde ich manchmal gefragt, was mein Vater von Beruf sei. „Kaufmännischer Angestellter“ log ich fröhlich. Denn alle Väter waren irgendwie Kaufmännische Angestellte und ich wollte nicht aus der Reihe fallen. Ich glaube, keiner wusste, was das eigentlich für ein Beruf ist. Ich auch nicht.
Mein Vater war Musiker und das ging gar nicht.
Bei jeder Gelegenheit griff er zum Klavier oder zum Akkordeon (Quetschkommode nannte er es liebevoll). Wenn er nicht auf irgendwelchen Kreuzfahrtschiffen musizierte, brachte er fröhlich singend die Familienmitglieder in Schwung, egal, ob sie wollten oder nicht. Vermutlich wurde ich schon in der Wiege beschallt, egal, ob ich wollte oder nicht. Meine Schwester wollte definitiv nicht, musste aber. Schon früh wurde sie zum Klavierunterricht gezwungen, musste sogar zum Vorspiel, während ich (vermutlich) friedlich in der Wiege schlief. Ich kannte ja diese Geräuschkulisse. Und weil sich meine große Schwester mit Händen und Füßen wehrte, hielt man von mir den Musikunterricht fern. Beim zweiten Kind stellt sich manchmal eine gewisse Resignation ein.
Als mein Vater starb, vererbte er mir das Akkordeon – sein Schmuckstück, perlmuttglänzend, riesig groß und schwer. Der Koffer verstaubte lange Jahre in meinem Keller, aber irgendwann entdeckte ich, dass Akkordeonmusik mehr ist als Shantygeschaukel beim Familienfest. Den Durchbruch brachten zwei Ereignisse.
Diese Musik hat mich mitgerissen
Erstens ein Konzert in der Hamburger Fabrik, in das mich ein musikbegeisterter Freund schleppte: Internationale Akkordeongrößen gemeinsam auf der Bühne. Hmm. Und was sollte ich da? Einfach mal hinhören, fand dieser Freund. Und ich muss gestehen, ich war bewegt, diese Musik hat mich einfach mitgerissen, zu Tränen gerührt. Ich weinte um meinen Vater, der mit seinem Schmuckstück um die Welt reisen durfte, statt Bilanzen zu wälzen (oder was immer so ein Kaufmännischer Angstellter macht) und um meine arme Schwester, die niemals freiwillig in ein Akkordeonkonzert gehen würde.
Ein Konzert – für mich allein!
Zweites Ereignis: Eine Zirkusvorstellung im Hamburger Schanzenviertel. Akrobatik, tierfrei, cool. Alle Besucher:innen durften Lose ziehen, ich zog den Hauptgewinn: Ein Akkordeonkonzert in eben diesem Zirkuszelt für mich ALLEIN. Tage später saß ich auf der Tribüne, der Akkordeonist irgendwo unter der Kuppel und spiele nur für mich. Schon wieder war ich zu Tränen gerührt. Zuhause holte ich mein Akkordeon raus. Keine Shanties, keine Musettewalzer. Nein, schöne Musik. Musik, die zu Tränen rührt, das war mein Ziel. Und ich fand einen Akkordeonlehrer, der genau das vermitteln konnte. Wunderbar!
Leider hielt das Glück nicht lange an. Ich zog nach Bremen und fand: Eine Lehrerin, die es mit Musette-Walzer und Shanties versuchte. Ich gab auf und das Akkordeon landete im Keller, wo es Jahre später durch die Folgen des Findorffer Starkregens unbrauchbar wurde. Schon wieder Tränen. Und aus.
Musette-Walzer statt Shanties
Die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Eines Tages bekam unsere Tochter leihweise ein ePiano. Ich erinnerte mich vage an ein paar Akkordeonmelodien und spielte drauf los. Schräg und laut, aber egal, ich hatte ja Kopfhörer. Und suchte nach einem Klavierlehrer. Was soll ich sagen: Shanties waren nicht dabei (dafür braucht man definitiv ein Akkordeon), dafür aber Musette-Walzer. Auch meine Karriere als Pianistin endet früh, dafür darf mein Jüngster – ganz ohne Zwang – klimpern und zwar ohne Vorspiel und Pipapo. Schööööön!
Die Geschichte ist immer noch nicht zu Ende: Neulich beim Chorwochenende holte eine Bekannte ihr Akkordeon hervor und spielte einfach so einen Walzer. Kein Musette, kein Shanty. Fast hätte ich wieder geweint. Im Keller suchte ich nach meinen alten Noten und tauchte ab in meine musikalische Vergangenheit. Erinnerte mich an das perlmuttglänzende Papa-Akkordeon, an meine ersten Versuche, an den traurigen Anblick in unserem überschwemmten Keller. Und ging zu meiner Nachbarin. Ich wusste: Sie hat das Akkordeon ihres Vaters (vielleicht war der auch Kaufmännischer Angestellter?) und lieh mir das gute Stück.
Die ersten Versuche waren nicht von Erfolg gekrönt, sämtliche Erinnerungen an Bässe und Griffe waren einfach weg. Nun steht es hier auf dem Sofa und ich bin ratlos. Woher bekomme ich einen Akkordeonlehrer, der nicht Musette oder Shanties …
Ich glaub, ich bringe es zurück.
2 Gedanken zu „Das Akkordeon auf dem Sofa“
Sehr, sehr schön – aber warum so ein trauriger Schluss? Ich habe eine Akkordeon-Spielerin bei Petras Mutter im Heim erlebt (keine Insassin) und die spielte Schlager der 50-70erJahre. Die kann das bestimmt auch vermitteln und war sehr gut drauf. Wenn ich nachforschen soll, sag Bescheid!
Liebe Grüße
Lieben Dank. Ach, das war gar nicht traurig gemeint. Ein bisschen melancholisch schon. Und ich bin ganz sicher mit dem Thema noch nicht durch, aber grad ist wenig Raum fürs Musik machen. Also (noch) nicht nachforschen.